31. August, 2017 von Vagabundo
Heute vor 20 Jahren – Amelie und das Kästchen
Der 31. August 2017. Für Verschwörungstheoretiker und Klatschkolumnisten ein Tag der regenbogenbunten Abwechslung inmitten der sich aktuell stets wiederholenden Kim-, Trump-, Erdogan- oder Putinmeldungen. Druck auf Trump wächst – vielleicht die bleierne Un-Schlagzeile des Jahres.
Doch heute darf zurückgeschaut werden. In eine nicht ganz so weit entfernte Zeit. Die Prinzessin der Herzen stirbt im Pariser Tunnel und das frisch eroberte Internet bekommt seine erste Möglichkeit, Schlagzeilen rauszuhauen und neben der etablierten Presse zu diskutieren.
Eng verwoben mit der damaligen Sensationsgeilheit der Gesellschaft zu diesem Thema ist der 2001 erschienene Film Die fabelhafte Welt der Amelie. Als roter Faden beziehen sich die Akteure innerhalb der Handlung immer und immer wieder auf die Frage nach Schönheit und Wirken der Lady Di, bis letztlich dem Mann aus Glas aus vollem Herzen der Kragen platzt.
Die Haupthandlung des Filmes setzt genau heute vor 20 Jahren ein. Während die Welt mit langem Atem medial die Tragödie zerpflückt, entdeckt Amelie in ihrer eigenen kleinen Welt ein weitaus bewegenderes Detail in Form eines Spielzeugkästchens hinter ihrer Badezimmerleiste. Dies stellt den Auslöser dar, die Welt im Kleinen zu verändern und dem Zuschauer mit einer nachhaltigen Wirkung aus dem Kinosaal zu entlassen. Die fabelhafte Welt der Amelie ist noch keine 20 Jahre alt und doch hinterließ der Film 2001 auch indirekt seine Spuren in der Tangoszene Europas.
Im frischen Jahrtausend, ohne Euro, ohne Facebook, ohne Youtube-Videoschnipsel war es gefühlt das Kino und seine Musik, das sich in die Tangoszene einbrachte. Und auch wenn es in den Filmen nicht immer der Tango selbst war, der die tragende Rolle spielte, so waren es doch bestimmte Stimmungen, die innerhalb der Szene auf fruchtbaren Boden fielen. Schaute man in die Regale oder DJ-Koffer des Jahres 2001 / 2002, so war es zu einem nicht geringen Anteil die Filmmusik, die gerade Novizen jenseits des Tango-Classicos faszinierte: Moulin Rouge mixte in epischer Weise Tanguera und Roxanne zu Tango de la Roxanne, Quadro Nuevo ließ das Herz mit seiner Version des Kommissar Maigret höher schlagen. Solino war der Garant für flirrende Romantik bei Open-Air-Veranstaltungen. Mit dem Soundtrack zu Buena Vista Social Club verbrachte die Tangoszene ihre Sommerabende auf dem Balkon. Der Soundtrack von Tango Lesson lieferte für DJs über Jahre die immer und immer wiederkehrende Frage nach Milonga Triste von Hugo Diaz. 2002 wurde der E-Tango um das Debütalbum von Gotan Project, La Revancha de la Tango wiederum zur ständig zitierten Hintergrundmusik für Werbespots, Dokumentationen und ließ Jennifer Lopez mit Richard Gere in Shall we dance (2004) im Tangodusel zurück. Und dann war da Amelie!
Yann Tiersens Soundtrack aus Variationen des Grundthemas von George Delerues Beitrag zum Truffautfilm Jules und Jim stellt, wie Amelie selbst, eine in sich geschlossene fabelhafte, kleine Welt dar: Poetisch, melancholisch leicht, verspielt wie ein Akkordeonkoffer voller Erinnerungen. Und so forderten die Tänzer in Folge auch über Jahre eben diese kleine Klangwelt im ¾-Takt.
Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich, spätnachts nach einem Ball in Dortmund mit einem meiner liebsten Maestros über die Wellenbewegungen in der Tangoszene. Seine Theorie war damals, dass der Tango stets an Unsicherheiten geknüpft sei: Je unüberschaubarer und konfliktbehafteter die Welt da draußen erscheine, umso mehr sehnte sich der Mensch nach einem kleinen, überschaubaren Winkel, in dem er selbst gestalten kann: sich selbst, seine Rolle und die Menschen kennt, die ihm begegnen. 2001, kurz nach dem vielbesungenen Milleniumschock, kurz vor dem frischen Euro und unmittelbar vor der Zäsur des 11. Septembers, traf diese Idee mit äußerster Präzision den Nagel auf den Kopf. Und so, wie Amelie in ihrer bonbonbunten Trödelwelt voller spielerischer Geheimnisse traumwandlerisch und anachronistisch eben jene Sehnsucht beim Kinopublikum bedient, so hat sich auch zum damaligen Zeitpunkt ohne herausragende mediale Verknüpfung die damalige Tangoszene ihren Winkel konquistadorisch erobert: Kleine Salons neben den etablierten Großstadtmilongas brachten eine neue Tänzergeneration auch in die Provinzen an der Peripherie der Ballungszentren. Der Tango legte endgültig sein Bühnenbild zur Musik von Piazzolla und Sexteto Mayor ab und tanzte Shows zu Donato inmitten der Teilnehmer. Organisch statt höher, schnell, weiter.
Nun, da sich auch nach über einem Jahrzehnt dieses Phänomen konsolidiert hat, ist die Tangoszene größer und professioneller denn je. Und mit Neugierde stellt sich die Frage, welches die kleinen Winkel und fabelhaften Refugien sein werden, die sich Tänzer und Novizen in diesen beunruhigen Zeiten zukünftig selbst erobern werden.
Lady Di hat sich vor ihrem Tod vor genau 20 Jahren eine eigene Welt inmitten des Zeremoniells geschaffen. Amelie ließ die Steinchen springen und brachte den väterlichen Gartenzwerg auf Trab. Vielleicht legt auch die aktuelle, junge Generation zukünftig häufiger die Landlustausgabe mit den neu entdecken Marmeladenrezepten aus dem Alten Land zur Seite, schließt für ein paar Stunden nach dem samstäglichen Trödelmarktbesuch die Facebook-App und stolpert einfach mal in den kleinen Salon irgendwo zwischen Lippe und der Eifel. Die Welt ist im Moment alles andere als fabelhaft, aber Gründe Tango zu tanzen bietet sie vielleicht heute umso mehr.
Alles Gute und bis zum nächsten Mal
Der Vagabundo
PS: Und falls Sie der Text langweilt, Tango jetzt nicht so ganz ihr Favorit ist und sie gerne über Marmelade nachdenken, hier ein süßes Video, direkt zum nachkochen…also falls Erdbeeren aufzutreiben sind ;-)
10. Mai, 2016 von Vagabundo
Nicht noch eine Kolumne.
Wandel ich zwischen meinen Terminen zuhause umher, machen mich meine vollgestopften Bücherregale nervös; das Bild der Bananenkartons mit ausrangierten Exemplaren im Keller beschert mir beim Gedanken an einen möglichen Umzug zudem nachts Herzstolpern. Flüchte ich auf die Straßen, mahnen mich überquellende öffentliche Bücherschränke vor Neuanschaffungen. Tablets und E-Book-Reader verschleiern die gewichtige Last, die wir an literarischer Kost mit uns herumschleppen, komprimieren sie zu einer Nullgrammnummer, in der nun zumindest eine harmonische Widerspiegelung der häufigen Inhaltsleere angedeutet wird.
Früher hieß es oft: „Die Kinder lesen nicht mehr.“. Dieser Satz lässt mich heute grübeln. Wo ich hinschaue, wird gelesen. Und geschrieben. Vielleicht ist es eher das große WAS. Ich traue mich kaum noch, im Netz Artikel zu lesen. Nicht wegen des Posts selbst, sondern wegen meiner Neugierde, die Kommentare darunter zu überfliegen. Im Schwarz-Weiß-Denken wird jeder zum Autoren. Um früher Schwarz auf Weiß zu erscheinen, musste ich am gnadenlosen Cerberus des Lektoren vorbei. Viel zu aufwändig für schnelle Meinungsäußerung. Für den militanten Frührentner gab es da höchstens noch den Leserbrief an das Lokalblatt; dieser ging jedoch so schnell unter, dass hier die Zeitverzögerung zum Nachdenken anregte.
Nun finden Gedanken in Echtzeit den Weg in die Welt und ich frage mich, warum ich als Kind gerne Gedanken lesen wollte. Wenn dies tatsächlich die Ehrlichkeit der Menschen darstellt, favorisiere ich die Lüge.
Jeder schreibt Blogs, Antworten, Glossen, Kommentare und Kolumnen...ungefragt, ob es jemand lesen möchte.
Und nun also auch ich. Pfui. Als ob ich nicht schon genug zu lesen, zu antworten, zu schreiben und teilweise sogar zu denken hätte.
Lese ich nicht, beschwert sich mein Umfeld, ich würde nicht antworten. Antworte ich, so schreibe ich viel zu spät zurück. Schreibe ich, hat sich das meiste schon erledigt.
Und nun? Nun soll ich also schreiben, regelmäßig. Über etwas, das die gewogenen Leser hier interessieren könnte. So lange bis keiner mehr liest und ich gegen einen Link zu einem Tangovideo des letzten Festivalito de la Trallala in Bad Sonstwo ausgetauscht werde.
Bohemio ist ein neues Portal und der Vagabundo, der nicht mehr so neu ist, wie er es gerne wäre, gibt hier also ab sofort wöchentlich seinen Senf hinzu. Nun, wer weiß, vielleicht passt es ja. Schließlich war einmal die Übersetzung des Bohemio im Deutschen „Dichtervagabund“.
Hm, ich werde es probieren...
Obwohl...Wenn ich es mir recht überlege: Das obere reicht doch eigentlich. Das war tatsächlich einfach. Die Überschrift heißt ja auch Nullnummer. Und überhaupt. So habe ich nun also immer inhaltlich eine Woche Vorsprung und das Eigentliche, das erzähle ich beim nächsten Mal.
Bleiben Sie mir gewogen
PS: Sollte Sie das vorangegangene gelangweilt haben, hier als Alternative ein Link zu Babyelephanten, die sich auf Menschen setzen.